Eingebettet in meinem Weltbild wähne ich mich in Sicherheit. Ich weiss, was mich erwartet, wie es mich erwartet und wie es zu enden hat. Alle meine Tassen scheinen im Schrank am genau richtigen Platz zu stehen, geordnet nach Wert, Alter, Nutzung, Grösse und Farben.
Es würde mir nicht in den Sinn kommen, diese Ordnung zu stören. Diese Ordnung gibt mir die Gewissheit, dass ich den Regeln und Normen entspreche. Ja, was für ein gutes Gefühl, wenn alles in Ordnung ist. Ich kann mich abends beruhigt ins weiche Bett meiner Wahrheit legen, denn meine Tassen stehen in meinem Schrank nach meinen Regeln in meiner Ordnung.
Mitten in der Nacht reisst mich die Irritation aus meinen gerechten Schlaf. Sie kreischt ohrenbetäubend laut, rüttelt mich, zieht an meinen Haaren und lässt mich keine Ruhe finden. Es ist dunkel, ich habe keine Orientierung, finde im Geschaukel keinen Halt und weiss nicht mal mehr, ob es tatsächlich mein Bett ist, in dem ich mich zu halten versuche. Je mehr ich mich gegen die Attacken der Irritation wehre, um so stärker werden sie. Sie kreischt noch lauter, schüttelt noch mehr bis ich schliesslich aus dem Bett falle.
Ich lande auf den festen, doch kalten Boden und schaue zur Irritation hinauf. Sie ist nun ruhig und schaut mir fest in die Augen. Es ist nach wie vor dunkel, ich habe nach wie vor keine Orientierung, doch spüre ich, dass mich die Irritation mit ihrem Blick fixiert.
Oh nein, meine Tassen! fällt mir plötzlich ein. Im Dunkeln ertaste ich mir den Weg zum Schrank, reisse ihn auf und versuche den Schaden auszumachen. Da entdecke ich einen Riss in einer Tasse, eine andere Tasse ist sogar in zwei Teile gesprungen. Die anderen scheinen durcheinander gekommen zu sein aber unversehrt. Neben mir taucht auf einmal die Irritation wieder auf. Ich schrecke zurück, will Abstand. Die soll mich und meine Tassen bloss in Ruhe lassen. In der Stille harren wir aus, schauen uns an bis unsere Blicke heller werden und wir uns ohne Worte verstehen. Nun erkenne ich, was sie mir zeigen wollte. Dort, ganz hinten im Schrank, ist ein ganz kleines, feines Tässchen zu sehen. Es ist ein stilles Tässchen, etwas verstaubt. Es hat nicht viel Wert und auch keine sehr schöne Farbe. Ich habe es nie grossartig beachtet. Nun nehme ich es hervor, streiche den Staub ab und betrachte es von allen Seiten, bis ich eine Inschrift finde:
Um eine wertvolle Tasse zu werden, brauche ich Raum.
Die Moral der Irritation:
- Sie kommt unverhofft, wenn alles in Ordnung zu sein scheint.
- Sie macht sich bemerkbar.
- Je mehr du dich wehrst, je stärker wird sie.
- Lässt du dich fallen, wird sie ruhig.
- Bleibe ruhig und schau ihr in die Augen.
- Hör zu bis du sie verstehst.
- Entdecke und würdige Unentdecktes.
- Lasse ihr den Raum, den sie braucht, um sie werden zu lassen, was sie sein wird.
Reflexionsfragen:
Wozu dient die Irritation?
Von welcher Seite habe ich die Irritation noch nicht angeschaut?
Was will mich die Irritation lehren?
Was will ich aus der Irritation lernen?