Während einer Bildreise befand sich eine Klientin ihrem Spiegelbild gegenüber. Um sich zu stärken, trank sie aus einer grünen Phiole mit der Aufschrift Selbstachtung. Ein bitterer Geschmack durchdrang sie. Ihr ganzer Körper zog sich zusammen. Stunden nach unserer Sitzung erreichte mich ein SMS von ihr, dass die Bitterkeit noch anhalte. Sie habe in der heutigen Sitzung die Einsicht gehabt, dass Bewusstsein im Selbst nichts ist ohne Achtung vor dem Selbst.
Ich möchte an dieser Stelle den Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Selbstachtung in den höchst treffenden Worten der Klientin wiedergeben.
Selbstbewusstsein: zu dem stehen, was man ist und hat und hinter dem eigenen Verhalten stehen. Zum eigenen Wort stehen und auch zu den eigenen Fehlern.
Selbstachtung: sich selbst wahr- und ernst nehmen. Darauf achten, was einem gut tut und was nicht. Auf sich aufpassen.
Nun ist die Selbstachtung im Geschmack bitter. Also besser gesagt, wenn das Wesen merkt, das etwas nicht stimmt, dann schmeckt es einem nicht. Wenn sich der ganze Körper zusammenzieht und die Alarmglocken läuten, will die Achtung vor sich selbst etwas mitteilen, und zwar: Gib Acht!
Im Zuge es allen recht machen zu wollen, geht die Kunst der Selbstachtung verloren oder man verlernt sie. Die Achtung vor dem Ich wird ignoriert, weil man nicht als egoistisch gelten will. Doch Selbstachtung hat nichts im Geringsten mit Egoismus zu tun. Ich nenne es darum eine Kunst, weil es weit über ein Können hinaus geht und viele Menschen sich selbst zu achten als unmöglich oder schier unvereinbar mit anderen Tugenden, Erwartungen und Forderungen im System halten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Bei weitem gefehlt: Selbstachtung und Selbstbewusstsein ergeben zusammen Integrität, und das wiederum stellt ein hoher Wert eines jeden Wesens dar. Oder anders ausgedrückt: Nur wenn es mir dienlich ist, kann es wiederum dir dienen und somit uns allen.
Es ist nicht die Bitterkeit, dir wir weg machen sollten. Denn es ist ein Hinweis unseres Wesens, unser Handeln im eigenen Sinn zu reflektieren.
Die bittere Medizin erfüllt ihren Zweck! Würden wir sie versüssen, würde sie ihren Zweck verfehlen!
Angela Taverna