Es trug sich zu, dass in einem Land, nahe dem unseren, das Volk Weihnachten nicht mehr feierte. Es fehlte ihm weder an der Stimmung noch an der Gelegenheit. Die Leute interessierten sich nicht mehr für Weihnachten. Also hielten die Hauptakteure der Weihnacht einen Konvent ab. Josef erschien mit der hochschwangeren Maria, die Hirten mitsamt ihren Schafen, die Kuh, der Esel, die Engel und die drei Weisen. Der Vorsitz hielt einer der Weisen: „Wir müssen Weihnachten neu erfinden! Jemand eine Idee wie wir Weihnachten für die Leute wieder attraktiv machen könnten?“
Der zweite Weise wies darauf hin, dass die Menschen gar nicht mehr wussten, worum es bei Weihnachten ging. Maria bekam einen Lachanfall, zeigte auf ihren Bauch und sagte: „Etwa nicht?“
Der dritte Weise griff ein: „Doch, doch, liebe Maria, wir wissen doch, dass an diesen Tagen die Ankunft deines Sohnes gefeiert wird. Es scheint jedoch, dass eine weitere Botschaft vergessen ging. Wir drei brachten Euch Geschenke und die Hirten huldigten Euch. Die Engel sangen tageweise – ach, was sage ich da – wochenweise! Wie die Geschichte endet wissen wir ja… Lassen wir das. Doch was ist es, was die Menschen wirklich bewegt? Was ist das Wesen der Weihnacht?“

Alle versanken in tiefes Grübeln. Es wurde still. Wirbel genug gab es um Weihnachten. An den Geschenken konnte es nicht liegen. Dafür sorgte die Industrie mit ihren Werbetrommeln. An Jesus lag es auch nicht. Er kam jedes Jahr zur gleichen Zeit verlässlich zur Welt; einmal kam Klein-Jesus sogar 10 Tage früher zur Welt als 1582 der Kalender vom Julianischen auf den Gregorianischen umgestellt wurde. Die Hirten waren auch immer zur Stelle, genauso wie die Engel, die wöchentlich ihre Stimmen auf Hochglanz brachten. Der Stall war aufgeräumt, der Esel und die Kuh an ihren Plätzen. Heu war genug da und die Krippe stabil. Auch der Weihnachtsstern leuchtete jedes Jahr den Weg zum Stall aus. Nach dieser Bestandesaufnahme mussten die Anwesenden zugeben, dass alle Umstände vorhanden waren, um angemessen Weihnachten zu feiern. Warum also wollten die Menschen nichts mehr von Weihnachten wissen?

„Nun“, sagte ein junger Hirte, der neu in der Runde zu sein schien, „was war denn der Ursprung der Weihnacht? Ich meine, bevor wir alle da waren?“ Maria machte einen entsetzten Eindruck. Josef hielt ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen während sie flüsterte: „Hat der keine Augen im Kopf?“ Jetzt kam der junge Hirte in Fahrt und wollte seinen Standpunkt erklären: „Ich meine, ich bin zwar neu hier, meine Familie war aber seit Beginn immer vertreten. Doch mehr, als dass ich jedes Jahr zur Krippe renne sobald die Engel das Singen beginnen, mache ich nicht.“ Die Engel warfen dem Hirten einen schräg-kritischen Blick zu. Dieser zollte umgehend Respekt: „Ihr singt wirklich himmlisch…“ Und fuhr dann weiter: „Im Einführungsworkshop hiess es, wir sollen schnell laufen, dem Jesuskind unsere Aufwartung machen und gut sei es. Auch im Hirtenhandbuch steht nichts darüber hinaus. Dass Jesus unser Retter ist und so weiter, ist ja o.k. Dafür gibt es ja genug andere Gelegenheiten, an denen die Menschen dessen gedenken. Aber an Weihnachten? Was ist das Wesen der Weihnacht?“

Es wurde erneut still. Zuerst war jeder über die Worte des jungen Hirten entsetzt und dann, weil niemand die Antwort auf seine Frage kannte. Sogar Maria hatte ihren Gesichtsausdruck geändert von entsetzt über wütend zu fragend. Eine lange Weile verging ohne dass jemand etwas sagen wollte. Wohl, weil niemand in der Lage war, etwas zu sagen, das konstruktiv zur Situation beitragen würde. Die Akteure waren in eine Zwickmühle geraten. Es war bald wieder Weihnachten und Maria würde entbinden. Würde Jesus überhaupt auf eine solche Welt kommen wollen? Also dauerte die Stille an und an…

Nach dieser langen Weile, in der die Beteiligten absolut ratlos waren, klopfte es an der Tür. Niemand wurde erwartet; es waren doch schon alle da. Es trat ein Wesen ein, weder Frau noch Mann. Es war einfach und wie es schien, war das Wesen echt. Der vorsitzende Weise ergriff das Wort und fragte nach der Identität des Wesens. Das Wesen lächelte wissend: „Bin ich zu spät? Ich bin das Wesen der Weihnacht.“ Der Weise fragte ungläubig: „Was heisst das? Wir sind doch schon alle hier, die die Weihnachten ausmachen. Hast du etwa eine Antwort auf unsere Frage? Wir müssen nämlich Weihnachten neu erfinden. Die Leute interessieren sich sonst nicht mehr für uns.“ Das Wesen fragte: „Was würde mit Euch passieren, wenn es mich nicht mehr gäbe?“ Einer der Weisen antwortete in einem sarkastischen Ton: „Wahrscheinlich würden wir uns in Luft auflösen und nach einer Weile würde sich keiner mehr an uns erinnern!“ – „Oder wir würden arbeitslos werden und endlich mehr Zeit haben für all die anderen interessanten Projekte.“ sagte einer der Engel. „Oh ja!“ sagte ein anderer Engel, „ich hätte schon eine Idee…“ Die Hirten schienen etwas verwirrt. Maria war einem Nervenzusammenbruch nahe. Josef, der Ärmste, wusste nicht wie er seine Frau beruhigen sollte und versuchte das Schlimmste wie z.B. eine Sturzgeburt zu vermeiden. Das Wesen liess es zu, dass alle im Chaos zu versinken drohten. Es herrschte Ratlosigkeit und unangefochtene Verzweiflung. Also schritt das Wesen ein: „Wie geht es Euch mit der Idee, dass es nicht um Weihnachten an sich geht sondern darum, dieser Zeit, in der vieles im Umbruch ist, den Leuten die Möglichkeit zu geben, ihre Wünsche zu erfüllen und nicht an einer Konvention festzuhalten, die sogar ihre eigene Identität vergessen zu haben scheint. Liebe Anwesenden, Ihr habt immer alles für Weihnachten gemacht. Was Ihr vergessen habt, ist Euch selber zu sein. Das Wesen der Weihnacht ist wie jedes andere Wesen echt. Horcht in Euch hinein. Wie echt seid Ihr noch?“

Wieder folgte eine Stille, in der sogar das reine Atmen zu laut gewesen wäre. Nun ergriff Maria das Wort, die sich gefangen hatte: „Willst du damit andeuten, dass wir nicht mehr uns selbst waren? Dass wir etwas darzustellen versuchten, das die Menschen sehen wollten?“ Josef ergänzte den Gedanken seiner Frau: „Glaubst du, wir haben uns in Rollen reingezwängt, die uns gar nicht zuteil gewesen waren?“ Und einer der Weisen: „Haben wir uns etwas vorgemacht? Und wollten dermassen gefallen, dass wir den Menschen etwas vorgemacht haben? Die Menschen haben gemerkt, dass wir nicht mehr echt sind und darum interessiert sich niemand mehr für uns?“
Ein Raunen ging durch die Menge. Der Weise hatte etwas wahrlich Weises gesagt. Etwas Weises muss nicht allen gefallen. Doch meist erkennt man es daran, dass man diesem nichts mehr hinzuzufügen hat.

Einer der alten Hirten ergriff das Wort: „Wir haben uns tatsächlich in der Zeit vergessen. Wir haben unser Wesen verloren.“ Und ein Engel fragte: „Was können wir tun? Wesen, sag uns was wir tun können!“ – Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf das Wesen, das weder Frau noch Mann zu sein schien. Und doch, jetzt, als alle Beteiligten in seine Augen blickten, erkannten sie sich selbst darin wieder. Das Wesen war die drei Weisen. Es war Josef, Maria und das Ungeborene Kind zugleich, alle Engel, alle Hirten und alle Schafe. Es war sogar die Kuh und der Esel. Das Wesen der Weihnacht war alle Beteiligten zugleich und gleichzeitig – keines mehr und keines weniger. Leise sprach es: „Nichts. Ihr könnt nichts tun. Besser gesagt: Tut nichts!“ Es tönte nicht verzweifelt oder resigniert sondern eher wie ein Rezept. – „Geht dahin in Frieden Eurer Wege und tut um Himmelswillen nichts oder nur das, was Euch Freude bereitet. Ihr Engel spielt oder singt andere Lieder. Ihr Hirten besucht mit Euren Herden andere Länder und Ihr Weisen macht was Weisen so tun: Denkt weise.“
Der eine Weise fragte nachdenklich für die anderen mit: „Und was wird aus Weihnachten?“ Das Wesen antwortete zuversichtlich: „Vielleicht löst sich Weihnachten auf aber noch wahrscheinlicher ist, dass wir einfach nur alle glücklich werden, weil wir das tun, was wir tun WOLLEN und nicht tun MÜSSEN!

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Es trug sich also zu, dass eine Frau und ihr Mann um Ende des Jahres ein Kind zur Welt brachten. Dabei schien ein Stern am Himmel heller als die anderen. Es erklangen engelsgleiche Stimmen am Firmament. Weisen und Hirten auf der Welt fragten sich kurz: Wollen wir da hin? Die Antwort darauf klang klar und deutlich aus dem Herzen: JA, weil wir das wollen! Einige Tage später trafen die Weisen bei Maria, Josef und dem Kind Jesus ein. Die Hirten waren bereits da. Gemeinsam verbrachten sie eine echte und besinnliche Zeit. Sie scherten sich nicht darum, ob die Menschen draussen sich um Weihnachten kümmerten und siehe da: Die Menschen erkannten die Echtheit des Wesens der Weihnacht und blickten alle zur Gemeinschaft, die glücklich war, das zu tun, was ihnen eigen war.

Sei du selbst, weil du so bist. Sei du und sei echt. Denn nur das Wesen ist echt und als solches den anderen erkennbar.

In diesem Sinne: Eine echte Weihnacht und ein noch echteres neues Jahr!

© Angela Taverna, 2010 (Vervielfältigung nur unter Genehmigung und Nennung der Autorin)

Autor

angela@caleidoscoop.ch

1 Kommentar

  1. Lieber Herr Kern

    ich habe Ihnen soeben eine Mail geschrieben mit der Geschichte als PDF. Ich wünsche Ihnen alles Gute und freue mich, dass Ihnen die Geschichte gefallen hat!

    Schöne Grüsse
    Angela Taverna

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